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Kurzbeschreibung
In ihrem bahnbrechenden Buch Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen untersucht Melanie Joy, wie wir dazu kommen, manche Tiere als Freunde zu betrachten, andere dagegen als Nahrung – ohne dass wir diese Unterscheidung plausibel begründen könnten. Joy erläutert die komplexen sozialen und psychologischen Mechanismen, durch die bestimmte Lebewesen in unseren Augen zu Lebensmitteln werden. Und sie zeigt, dass diese Mechanismen unterschwellig wirken, ähnlich wie bei anderen Formen der Diskriminierung. Für das unsichtbare Glaubenssystem, das darin wurzelt, hat sie einen eigenen Begriff geprägt: „Karnismus“. Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen ist also kein weiteres Buch, das uns erklärt, weshalb wir kein Fleisch essen sollten. Stattdessen erfahren wir hier, warum wir es tun, und erhalten so die Möglichkeit, unsere Konsumentscheidungen aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Über den Autor und weitere Mitwirkende
Melanie Joy ist Professorin für Psychologie und Soziologie an der Universität von Massachusetts in Boston. Die promovierte Sozialpsychologin und Harvard-Absolventin engagiert sich seit 20 Jahren in der Tierrechtsbewegung und berät Aktivisten auf der ganzen Welt zu Themen wie effektive Interessenvertretung, gewaltfreie Kommunikation und Strategien für gesellschaftlichen Wandel.
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Es ist an der Zeit aufzuwachen!
Von Susanne K. (Literaturschock.de / Leserunden.de)
„Karnismus ist auch eine gewalttätige Ideologie, denn Fleisch kann nicht ohne Töten produziert werden. Da die meisten Menschen Gewalt ablehnen, haben wir eine Reihe psychologischer und emotionaler Verteidigungsmechanismen entwickelt. Karnismus lehrt einen, wie man nicht fühlt, indem Tiere in „essbar“ und „nicht essbar“ eingeteilt werden.“
Interview mit Melanie Joy „Wir folgen unsichtbarem Glaubenssystem“ bei derStandard.at)
Dieses Buch hat mich schlicht und einfach überwältigt. Im Gegensatz zu „Peace Food“ ist es sogar fundiert, denn hier wird die psychologisch-wissenschaftliche Seite des Fleischessens beleuchtet – zu 100% esoterikfrei.
Eigentlich dachte ich, dass das für mich eine recht entspannte Lektüre wird, aber weit gefehlt: Mein Kopf rauchte und jede Seite gab mir Stoff zum Nachdenken.
Es teilt sich in folgende Kapitel auf:
1. Lieben oder essen?
2. Karnismus: „Es ist halt einfach so“
3. Wie es in Wirklichkeit ist
4. Kollateralschäden: Die anderen Opfer des Karnismus
5. Fleisch und seine Mythen: Rechtfertigungen des Karnismus
6. Hinter dem karnistischen Spiegel: Der verinnerlichte Karnismus
7. Zeugnis ablegen: Vom Karnismus zum Mitgefühl
„Wie es in Wirklichkeit ist“ zeigt die Hintergründe der Tierproduktion. Vieles davon kannte ich bereits und alles davon geht mir sehr zu Herzen. Es sind die Schilderungen, die keiner von uns wissen möchte, vor denen wir immer wieder die Augen verschließen. Dinge, die wir als Tierschutzpropaganda abtun, von denen wir aber dennoch insgeheim wissen: Es ist nur logisch, dass diese geschilderten Szenen der Wahrheit entsprechen müssen. Anders wäre unser Hunger auf Tier nicht zu bewältigen.
Veganer und manchmal auch Vegetarier müssen sich immer wieder vorwerfen lassen, dass sie einer Ideologie folgen, doch ist es nicht genauso Ideologie, etwas nicht zu hinterfragen, sondern zu tun, weil alle es tun und die eine Tierart in „essbar“, die andere in „nicht essbar“ einzuteilen, ohne dass man diese Einteilung genauer begründen könnte (mit Leid und Intelligenz funktioniert das nämlich nicht – dann hätten Hunde vor allem in Hinsicht ihrer Intelligenz das Spiel gegen die Schweine verloren und müssten auf unseren Tellern landen.
Sehr viele Überlegungen waren für mich ganz neu, obwohl ich mich ja nun schon recht lange mit dem Thema beschäftige. Die Ideologie des Fleischessens hat nun einen Namen erhalten: Karnismus. Damit wird sie benannt und aus dem Schatten geholt, sichtbar gemacht. Bewusst gemacht.
Im Gegensatz zum Vegetarismus oder Veganismus ist der Karnismus eine Ideologie, die auf flächendeckender physischer Gewalt aufbaut. Melanie Joy geht nun der Frage nach, weshalb die Mehrheit einer solchen Ideologie folgt. Dies macht sie durch und durch schlüssig und stattet alle Thesen mit wissenschaftlichen Quellennachweisen aus.
Zwar bezieht sich Melanie Joy im Buch auf die Situation in den USA, doch es gibt Fußnoten des Übersetzers, die klar machen: Deutschland steht dem in nichts nach. So verbringt auch hier der Großteil der Schweine sein Leben eingesperrt auf engstem Raum, obwohl freilebende Schweine täglich bis zu 50 km wandern. Das einzige Mal, dass sie ins Freie kommen, ist auf dem Weg in den Schlachthof. Auch hier werden die Ferkel kurz nach der Geburt ohne Betäubung kastriert und ihre Schwänze werden abgeschnitten (ebenfalls ohne Betäubung).
Viele Hundebesitzer und „Tierschützer“ regen sich auf, wenn sie davon hören, dass z.B. Whippet-Welpen (Windhunderasse) kurz nach der Geburt ohne Betäubung die Wolfskralle abgeknippst wird. Genau diese Menschen essen ohne mit der Wimper zu zucken Schweinefleisch. Wo ist da die Logik? Wie kann man dieses Tun begründen?
Und doch ist es wichtig für uns, dass wir diese Unterstellungen, Tiere hätten eine höhere Schmerztoleranz, teilen. Bei Fischen ist das immer noch die gängige Ansicht, obwohl viele Forschungen inzwischen bewiesen haben, dass auch Fische sowohl Intelligenz als auch Schmerzempfinden besitzen. Auch das Leid der Milchkühe wird eindrucksvoll geschildert.
Am 01. Juni ist Weltmilchtag. Melanie Joy schreibt, dass eine Kuh ein natürliches Alter von rund 20 Jahren erreichen kann. In der Milchwirtschaft wird sie höchstens 4 Jahre alt, weil sie bis dahin körperlich völlig ausgepowert ist. Ihr letzter Gang ist der zum Schlachter. Rinderhack besteht übrigens zu einem großen Teil aus Milchkühen. Übrigens: Niedliche Kälbchen tummeln sich in fast jedem Kinderbuch. Doch wie ist die Wirklichkeit? Kälber sind Abfallprodukte der Milchindustrie. Ohne diese würde es wahrscheinlich gar kein Kalbfleisch geben.
Ein perverses, gewalttätiges System, das uns verdummen lässt.
Das Kapitel „Kollateralschäden. Die anderen Opfer des Karnismus“ behandelt das noch weniger Offensichtliche: Das Opfer Mensch. Generell ist das alles überhaupt kein neues Thema. Bereits Upton Sinclair schrieb mit „Der Dschungel“ ein Enthüllungsbuch über die amerikanische Fleischindustrie, die der deutschen nicht viel voraus hat.
Was hat sich geändert? Vieles: Allerdings wurde nichts besser, sondern schlimmer. Korruption, Profitwahn, Umweltschäden, Menschen- und Tierleid durch immer höhere Tötungszahlen sind seitdem fast explodiert. Viele neue Informationen bietet Melanie Joy. Ich wusste zum Beispiel nicht die Hintergründe der aktuellen „Kontrollmechanismen“:
„In den 80er Jahren jedoch übertrugen neue Gesetze die Pflicht zur Qualitätssicherung von der Regierung auf die Betriebe selbst. Das bedeutet, dass heute nicht mehr in erster Linie staatliche Kontrolleure für die Detailkontrollen zuständig sind, sondern unternehmenseigene Mitarbeiter.“
Joy bezieht sich hier auf Amerika und ich konnte kaum glauben, dass ähnliche Verhältnisse auch in Deutschland gelten. Doch auch hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht, wie eine Anmerkung des Übersetzers zeigt:
„Diese Aufgabenverteilung gilt seit 1987 auch in Deutschland. Die EU-Schlachtverordnung vom 01.01.2013 legt zudem auch den Tierschutz in die Hände der Schlachthofbetreiber selbst. Statt eines Amtsveterinärs ist nun ein unternehmenseigener Tierschutzbeauftragter für die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Behandlung und Betäubung der Tiere zuständig.“
Da fragt man sich doch wirklich: Soll ich jetzt eigentlich lachen oder weinen? Mir war das völlig neu, es zeigt aber zu schön, wie unser System funktioniert.
Natürlich wird auch der ökologische Preis für unser Fleisch genannt. Die Nutztierhaltung zählt nach wie vor zu den zwei oder drei Hauptverursachern der wichtigsten Umweltprobleme (Aussage der Vereinten Nationen). Außerdem ist die Tierindustrie sehr wahrscheinlich der weltweit größte Wasserverschmutzer.
Dass die Meere leergefischt werden, ist bekannt. Viele Menschen essen deshalb lieber aus ökologischen Gründen Fische aus Aquakultur. Auch das ist eine Form von sich selbst in die Tasche lügen. Die meisten Fische aus dem Meer werden nämlich an Fische in Aquakultur verfüttert. Auch Zuchtfische leben in Massentierhaltung und durch diesen hohen Besatz an Tieren muss auch hier Antibiotika gefüttert werden – was bei ans Meer angeschlossenen Becken direkt in die Umwelt gespült wird.
Auf die gesundheitlichen Aspekte kommt Melanie Joy auch zu sprechen und sie stellt die Frage, weshalb auf tierischen Lebensmitteln kein Warnaufdruck angebracht wird (vergleichbar mit Zigaretten – an deren Konsum durchschnittlich weniger Menschen an Krebs sterben als durch Tierkonsum).
Das Kapitel „Fleisch und seine Mythen: Rechtfertigungen des Karnismus“ behandelt die drei Ns zur Rechtfertigung: Fleischessen sei normal, natürlich und notwendig. Joy zeigt recht deutlich, dass diese drei Rechtfertigungen eigentlich gar nicht wissenschaftlich fundiert sind, sondern schlicht und einfach zum Prinzip gewalttätiger Ideologien gehören. Mythen als Tatsachen ausgeben und so kritisches Denken unterbinden. Sie untermalt dies auch mit einleuchtenden Beispielen aus der Geschichte der Menschheit. Diese Rechtfertigungen seien in unserem Bewusstsein so tief verankert, dass wir sie auch kaum hinterfragen.
„Denken wir zum Beispiel daran, dass der amerikanische Tierärzteverband AVMA Kastenstände befürwortet, 60 Zentimeter breite Käfige, in denen Sauen während der Schwangerschaft eingesperrt bleiben.“
In Kapitel 3 wurde bereits erwähnt, dass genau diese Art der Haltung in mehreren Ländern und einigen US-Bundesstaaten also inhuman gilt, dass sie verboten ist. Übrigens: Auch unsere deutsche Bundestierärztekammer hat sich bisher noch nicht für ein Verbot der Kastenstände ausgesprochen.
Experten, denen die meisten Glauben schenken. Der Bock wird mal wieder zum Gärtner gemacht. Wie diese Sache mit der Ernährungsbildung durch McDonalds auf deutschen Schulen. Beim Lesen des Buches frage ich mich wirklich auf fast jeder Seite, wie ich so lange die Augen verschließen konnte. So viel Zeit, in der mein logischer Menschenverstand auf Urlaub war.
Melanie Joy öffnet die Augen. Sie zeigt, dass wir alle keine sehr freien Menschen sind in unseren Entscheidungen. Wir agieren in einem sehr engen Spektrum und die meisten unserer Ansichten wurden uns mehr oder weniger in die Wiege gelegt. Wer von uns hat sich als Kleinkind dafür entschieden, Babybrei mit Hühnchen zu essen?
Das Faszinierende dabei ist, dass Vegetarier und Veganer offensichtlich genau die Menschen sind, die sich gegen Systeme wehren. Die gesellschaftliche Norm aktiv hinterfragen. In Hollywoodfilmen wären sie vermutlich Helden. In der wahren Welt werden sie bestenfalls belächelt. Was sagt das über uns und unsere Gesellschaft aus? Parallel lese ich gerade „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, das über die Menschen in Südkorea berichtet. Inzwischen habe ich immer mehr den Eindruck, dass wir ähnlich unfrei sind. Zwar auf eine andere Art und mit weniger Gewalt, die direkt gegen uns gerichtet ist – dennoch leben wir in diesem gewalttätigen System, verschließen die Augen, wiegen uns in Sicherheit und glauben nur das, was wir glauben wollen.
Das Kapitel „Hinter dem karnistischen Spiegel: Der verinnerlichte Karnismus“ taucht noch tiefer in die menschliche Psychologie ein und die Autorin scheut nicht davor, diverse Fachbegriffe in den Raum zu werfen, sie in den Kontext zu setzen und anhand des Karnismus zu erklären.
Das Kognitive Trio besteht aus Verdinglichung, Entindividualisierung und Dichotomisierung. Diese Abwehrmechanismen sind psychische Prozesse, die bei übermäßigem Gebrauch zu abwehrbedingten Wahrnehmungsverzerrungen führen. Je mehr wir uns mit jemandem identifizieren können, umso mehr Empathie empfinden wir. Deshalb ist es innerhalb des Karnismus so wichtig, die Tiere nicht als Lebewesen zu sehen, sondern als Objekte. Und ganz besonders die Masse führt zu einer Entindividualisierung.
Kennt jemand das Tolstoi-Syndrom? Es ist im englischen Sprachraum ein gängiger Begriff für das Phänomen, dass wir Dinge mit der Zeit im Geiste wieder relativieren, verharmlosen:
„Ich weiß, dass die meisten Menschen, selbst die intelligentesten, Mühe haben, die Wahrheit – selbst die einfachste und klarste Wahrheit zu erkennen, wenn diese Wahrheit sie zwingt, Ideen für falsch zu halten, […] auf die sie ihr Leben gegründet haben.“
Lew Nikolajewitsch Tolstoi
Und noch ein tolles Zitat aus „Matrix“ – Morpheus spricht zu Neo:
Du bist hier, weil Du etwas weißt. Etwas, das du nicht erklären kannst, aber du fühlst es. Du fühlst es schon dein ganzes Leben lang, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Du weißt nicht, was, aber es ist da, wie ein Splitter in deinem Kopf. […] Ich will deinen Geist befreien, Neo. Aber ich kann dir nur die Tür zeigen. Durchgehen musst du ganz allein.
Jeden Tag treffen wir diese Entscheidung. Die meisten von uns treten nicht durch die Tür. Inzwischen fordert sogar die UN eine weltweite Hinwendung zu einer Ernährung ohne Fleisch und Milchprodukte.
Übrigens wurde die deutsche Ausgabe angepasst. Die amerikanische Ausgabe enthält einige Bezüge auf den Holocaust. In der Übersetzung entfielen einige Zitate, die eine zu direkte Vergleichbarkeit heutiger Formen von Unrecht zum Nationalsozialismus nahelegen.
Ein Buch, das sich in erster Linie an Fleischesser / Allesesser richtet, aber auch Vegetarier und Veganer dürften hier jede Menge Stoff zum Nachdenken bekommen.